31

 

Claire wünschte, alles wäre nur ein Traum. Ein schrecklicher Albtraum, aus dem sie einfach aufwachen konnte und die Welt wäre wieder in Ordnung. Sie wünschte sich drei Nächte zurück, als sie und Andreas allein in dem Haus in Newport gewesen waren und sich geliebt hatten, an den Kais entlangspaziert waren und sich im Mondschein umarmt hatten.

Doch der Klang von Wilhelm Reichs grausamer Stimme - die Erkenntnis, was er Andreas und den Kriegern, die mit ihm im Innern des aufgegebenen Verstecks waren, gerade angetan hatte... und den Frauen, die schon in wenigen Minuten ihre Gefährten beweinen würden - sickerte in Claires Seele wie Gift.

„Ich halt's hier drin keine Sekunde länger aus“, murmelte sie und sah die aschfahle Dylan an.

„Wir können nicht raus, Claire. Hörst du nicht die Schüsse da draußen beim Eingang?“

Claire hörte sie. Rio war erst vor ein paar Minuten gegangen. Renata, Hunter und er waren noch immer mit den Gen-Eins-Killern beschäftigt, die an die Erdoberfläche gekommen waren. Außerhalb des Fahrzeugs war es gefährlich, das wusste Claire. Aber während sie angstvoll durch die getönte Windschutzscheibe auf den Wald starrte, der sie umgab, kam ihr etwas anderes, noch Grauenvolleres in den Sinn.

„Oh mein Gott... nein. Das kann nicht Miras Vision sein.“

Sie öffnete die Tür und glitt aus dem Rover. Erst jetzt war ihr klar geworden, dass die Vorahnung, die sie in den Augen des kleinen Mädchens gesehen hatte, gerade Wirklichkeit wurde. Exakt hier, schon in den nächsten furchtbaren fünf Minuten.

Dylan stieg aus dem Fahrzeug, umrundete es und packte sie am Arm. „Claire, steig bitte wieder ein. Du kannst nicht...“

„Das hier ist der Wald, den ich in Miras Augen gesehen habe“, schrie sie, ganz elend vor Gewissheit.

Der gleiche Ort, an dem sie die Angst verspürt hatte, Andreas in einem Haufen rauchender Trümmer und Asche zu verlieren. „Die Explosion, Dylan. Genau das hat Mira mir gezeigt, Es wird wirklich passieren. Oh mein Gott... nein!“

Claire riss sich von der Stammesgefährtin los und rannte in den düsteren Wald hinein, mit wild klopfendem Herzen und Andreas' Namen wie ein verzweifeltes Gebet auf den Lippen.

Jede Zelle in Reichens Körper schrie danach, die geballte Wucht seiner Wut gegen Wilhelm Roth zu entfesseln. Es wäre eine Sache von Sekunden, aus dem Schweinehund ein Häufchen Asche zu machen und es unter seinen Stiefeln zu zertreten.

Aber es war viel zu gnädig, Roth in einer einzigen Wutexplosion einzuäschern. Abschaum wie er verdiente es zu leiden. Vor allem, nachdem er eben so feige gewesen war, Sprengsätze zu aktivieren, die keinem der Krieger, die dort unten in dem UV-Käfig eingeschlossen waren, die geringste Überlebenschance ließen. Seine Freunde sollten nicht sterben, nur weil zwischen ihm und Roth böses Blut herrschte.

Dieser Gedanke war es vor allem, der Reichen die Kraft gab, seinen Hass auf Roth zu ignorieren und seine Wut stattdessen auf das Kontrollpult loszulassen, das die gesamte Rückwand der Beobachtungskabine einnahm. Einen Flammenstoß nach dem anderen schleuderte er auf die Regler und Überwachungsgeräte, bis schließlich mit einem lauten Knall alles dunkel wurde.

Er sah Roth erst, als der es geschafft hatte, aus einer der Seitentüren zu kriechen. Reichen drehte sich zu dem zerborstenen Fenster um und warf einen Blick auf die Krieger hinunter, die von dem deaktivierten Podest der Zelle sprangen.

„Reichen!“ Es war Tegans tiefe Stimme, die zu ihm hochrief. Reichens Blick glühte bernsteingelb und flackerte wie das Feuer, das immer heftiger in ihm tobte. „Komm da raus, Reichen! Lass den Mistkerl. Er ist tot, wenn er hier drin bleibt.“

Stimmt, dachte Reichen. Aber so, wie sein Körper sich anfühlte - seine Venen brodelndes Lava, sein Denken nur auf Zerstörung fixiert - , wurde ihm klar, dass der Augenblick, vor dem er sich so lange gefürchtet hatte, endgültig gekommen war.

Er war zu weit gegangen. Das Feuer in ihm wurde immer stärker, er hatte es nicht mehr unter Kontrolle.

„Reichen, verdammt noch mal!“, schrie Tegan und zögerte, als die übrigen Krieger so klug waren, den Raum schleunigst zu verlassen. „Vergiss Roth, wir müssen unseren Arsch hier rauskriegen, bevor uns alles um die Ohren fliegt!“

„Pass auf sie auf, schaffte er es irgendwie zu sagen. Seine Kehle war trocken wie Zunder und kratzte bei jeder Silbe. „Bring sie irgendwo in Sicherheit... tu mir den Gefallen, Tegan.“

Erwartete den finsteren Fluch nicht ab, der von unten heraufdrang. Reichen jagte Roth nach und vertraute darauf, dass der Krieger - sein Freund - seine Bitte erfüllen würde. Wenn er nur Claire in Sicherheit wusste, mehr brauchte er nicht.

Abgesehen von der Gewissheit, dass Wilhelm Roth tot war.

Er schlich durch den vorderen Flur, in den Roth gerannt war, und hörte dabei das Kreischen von Metall, das sich verbog, die Stahl- und Betonverstärkungen des unterirdischen Bunkers protestierten gegen seine Anwesenheit. Leere Transportkarren aus Metall knickten zusammen, wenn er an ihnen vorbeikam, Glasfenster in Türen und Büros zersplitterten angesichts der puren Intensität und Energie der weiß glühenden Flammen, die um seine Glieder und seinen Körper kreisten wie ein undurchdringlicher, lebendiger Kokon aus reiner Energie.

„Wilhelm Roth!“, brüllte er, als er auf ein paar Dutzend Meter an den Vampir herangekommen war.

Roth war davongerannt wie das Ungeziefer, das er war, aber nun wurde er langsamer und blieb stehen.

Zweifellos spürte er, wie vergeblich sein Versuch war, seinem Tod zu entrinnen - durch Reichens Hand oder seine eigene, nachdem er vor drei Minuten diesen Sprengknopf aktiviert hatte.

Roth drehte sich langsam um, um ihm entgegenzusehen. „Du überraschst mich, Reichen. Ich hätte gedacht, dass deine Liebe zu meiner treulosen Gefährtin stärker ist als dein Hass auf mich.“

Reichen knurrte. Er hatte nicht vor, mit diesem Abschaum über Claire oder seine Gefühle für sie zu reden. Roth musste wissen, dass bis zur Explosion nur noch weniger als drei Minuten blieben und es keiner von ihnen schaffen würde, noch rechtzeitig aus dem Bunker zu entkommen.

Reichen stapfte voran und konzentrierte sich voll darauf, Roth nicht augenblicklich in Asche zu verwandeln. Er wollte die nächsten zwei Minuten seines Lebens sinnvoll verwenden und konnte sich nichts Besseres vorstellen, als Roth im Sekundentakt zu töten, seinen Körper Zentimeter für Zentimeter wegzubrennen. Während er auf ihn zuging, blieb Roth keine andere Wahl, als zurückzuweichen, und er schob sich immer näher ans Ende des Korridors.

Reichen sah, dass Roths Haut sich zu röten begann.

Er kam noch näher, drängte ihn weiter zurück.

Schweißperlen brachen Roth aus Augenbrauen und Oberlippe, dann glänzten sein ganzes Gesicht und sein Hals vor Feuchtigkeit. Und immer noch kam Reichen näher. Roth fauchte, als seine ungeschützten Hautpartien anfingen, Blasen zu werfen und zu verbrennen.

Gestank stieg von seinem blonden Haar auf, das in der Hitze von Reichens gnadenloser Gabe ebenfalls zu versengen begann.

Als seine Kleidung zu qualmen anfing, schrie Roth auf. „Mach ruhig weiter, gib dein Bestes“, stieß er hervor. Er keuchte vor Qual, fand aber dennoch die Kraft, seine Lippen zu einem sadistischen Lächeln zu verziehen. „Hast du's vergessen? Meine Blutsverbindung zu Claire... solange ich am Leben bin, fühlt sie meine Schmerzen. Foltere mich ruhig.

Du folterst sie auch.“

Claire schrie auf und fiel auf die Knie. Vor sich in der Dunkelheit sah sie Renata, Hunter und Rio, die es bei der alten Scheune gerade mit dem letzten Gen- Eins-Killer aufnahmen. Und sie sah, wie zuerst Kade und Nikolai, dann Brock und Tegan durch das schwarze Einstiegsloch aus den Tiefen von Dragos' Versteck traten. Was war mit Andreas? Sie wollte nach den Kriegern rufen, doch der sengende Schmerz, der sie plötzlich durchfuhr, raubte ihr buchstäblich den Atem.

Er hatte sie zusammenklappen lassen, Hitze überflutete ihren Körper, als ob sie mitten in der Hölle stünde. Aber es war Wilhelm Roth, der in diesem höllischen Inferno stand. Es war seine Marter, die sie quälte, sein Schmerz, der in ihrem Blut widerhallte.

Andre.

Er war die Ursache von Roths Schmerzen. Das hieß, dass er noch am Leben war, noch immer irgendwo dort unten in diesem unterirdischen Bunker atmete.

Und das bedeutete, dass er noch eine Chance hatte, von dort zu verschwinden, bevor es zum Schlimmsten kam. Noch hatte er die Chance, zu ihr zurückzukehren.

Gestärkt von dieser neuen Hoffnung, kam Claire wieder auf die Füße.

Sie setzte sich gegen die schmerzhafte psychische Verbindung zu Roth zur Wehr und begann erneut zu rennen. Wenn Tegan und die anderen Krieger es heil herausgeschafft hatten, konnte Andreas nicht weit hinter ihnen sein.

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